"Is it only a dream that there'll be no more turning away?"      (Charly, 60)

Etwas nachdenklich (Charly, 60)


Mein erstes Shooting in diesem Projekt. Es ist Samstag Nachmittag und ich parke mein Auto auf dem Hof vor dem Haus von Charly. Ich bin 20 Minuten später als vereinbart. Man hört Motorengeräusche. Charly kommt mir in Arbeitsklamotten mit Wollmütze auf dem Kopf mit dem Aufsatzrasenmäher entgegen gefahren. Er lächelt und fragt, ob er den Rasen noch kurz fertig machen kann. Klar!

 

Ich warte mit seiner Frau Aida und dem Hund "Pit" auf der riesigen Dachterasse des Hauses. Von oben beobachten wir wie Charly seelenruhig seine Bahnen und Runden dreht im Garten. "Ja", denke ich "Er ist mein erster Freigeist".

 

Nach über einer Stunde sehe ich wie Charly den Rasenmäher parkt. Er kommt nach oben ins Haus und wir setzen uns mit Kaffee in die kleine gemütliche Küche. Ich erkläre ihm mein Projekt und habe das Gefühl, dass es ihm gefällt.


"Was mich ausmacht? Lass uns eine rauchen und nen Rum trinken."

Wir setzen uns in den Wintergarten, der an die Terrasse grenzt. Der hohe Raum mit orangenen und blauen Wänden hat afrikanische Einflüsse, kombiniert mit altdeutschen Möbeln. Gemütlich. Charly erzählt von seiner Sammlung an verschiedenen Rum, meistens aus Südamerika. Wir schießen während der Feierabend-Zigarette und bei einem leckeren Glas "Pacto Navio" die ersten Bilder.


"Achso apropos, in 20 Minuten beginnt die Sportschau"

Mir wird klar, dass das kein normales Shooting wird. Das hätte auch nicht gepasst. Also unterhalten wir uns einfach und die Kamera ist unser stiller Begleiter. Keine wilden Sets, kein künstliches Licht setzen, keine Posen - einfach treiben lassen. Also sitzen wir um 18 Uhr in der Diele (auch Raucherbereich) und gucken die Sportschau. Charly ist großer Werder Bremen-Sympathisant. Absolut treu. Er fiebert mit und ist sehr gut über die gesamte Bundesliga informiert. Selbst in der dritten Liga kennt er sich aus. Pit folgt uns durch das ganze Haus und sitzt auch beim Fußball gucken auf einem Stuhl neben Charly.


"Los geht´s Abendsonne"

Unser nächstes Ziel ist die Dachterrasse. Wir nutzten die abendliche Aussicht für weitere Gespräche und ein paar Bilder - natürlich inklusive Rauchen. Nach kurzer Zeit kommt auch Pit dazu und zeigt mir seinen Lieblingsplatz auf der Terrasse. Charly erzählt, dass er und seine Frau Aida oft Abends auf der Dachterrasse sitzen und den Sonnenuntergang genießen. Er erzählt aber auch von dem Ärger den er hatte, als er seine 10 Hektar Ackerland vor dem Haus verkaufen wollte. Drei Jahre Gerichtsprozesse und Anwaltskosten. Man merkt ihm an, wie ihn dieses Thema bewegt hat in den Jahren. Von dem Geld für das Ackerland wollte er seiner kranken Mutter eine bessere Pflege ermöglichen. Leider konnte sie das nicht mehr erleben, denn sie ist verstorben, bevor die Gerichtsprozesse abgeschlossen waren. 


Jetzt möchte Charly das Geld vielleicht nutzen, um nach Bolivien auszuwandern. Er hat bereits schon einmal 4 Jahre in Ecuador gelebt und eine Handelsschule geleitet. Seine Frau Aida könnte dort ihr Studium beenden. Auf die Frage was Charly in Bolivien dann machen würde, antwortet er: "Nichts. Mittwochs ist ja Championsleague. Haushalt, Rauchen und um meine Schwiegermutter kümmern. Das würde völlig ausreichen, ey".  

 


"Der Heuboden, den zeig ich Dir!"

Von der Dachterasse aus kann man durch eine Tür in weitere Abstellräume und die Werkstatt laufen. Das ganze Haus ist der Traum eines jeden Fotografen. Soviel zu entdecken. Nach einigen Türen landen wir auf dem Heuboden der angrenzenden Scheune. Durch ein Dachfenster scheint mattes Licht. Sonst alles dunkel. Hier entstehen die ausdruckstärksten Bilder dieser Serie, weil das Fensterlicht von oben harte Schatten wirft und ruhige, nachdenkliche Ausdrücke im Gesicht verstärkt.

 


"Meine absolute Lieblingsplatte ist »On the Turning Away«."

Im Wintergarten hatte ich sofort die sehr zentrale Musik-Ecke entdeckt. Große schwarze Stereoboxen und ein selbst gebautes Massivholzregal auf dem Verstärker und Plattenspieler stehen. Vor dem Regal steht Omas alter Fernseh-Sessel mit einer Decke. Man sieht, dass dieser Platz regelmäßig benutzt wird. Charly erzählt mir, dass er gern Reggae hört. Aber generell findet man in seiner Plattensammlung viele verschiedene Richtungen. Er zieht eine Platte hervor und sein Blick öffnet sich. Sein Lieblingssong ist auf dieser Platte. Das Pink Floyd-Album von 1986 mit dem Song "On the Turning Away". Der Song ist ruhig und regt zum Nachdenken an:  

 

No more turning away
 from the weak and the weary
 no more turning away
 from the coldness inside
 just a world that we all must share
 it's not enough just to stand and stare
 is it only a dream that there'll be
 no more turning away 

 

Meiner Meinung nach, sagt der Song auch viel über Charly aus. Er ist keiner der sich umdreht und wegschaut. Er hilft, er ist umsichtig und alles andere als kalt im Inneren. Er träumt wirklich von einer besseren Welt und trägt mit jeden Atemzug dazu bei.

 


"Ich hasse Computer... den soll man auf den Fotos nicht sehen!"

Nach der Abenddämmerung sitzen wir noch am Kamin im Flur und auch in Charlys Arbeitszimmer. Sein Arbeitszimmer ist gemütlich und etwas chaotisch zugleich.  Es gibt viel zu entdecken. Poster aus seiner Schulzeit von Karl Marx, Poster aus der Zeit in Afrika und eine große Bolivien-Karte zieren die Wände. Charlie erzählt von Personen die ihn beeinflusst haben. Karl Marx, Carl von Ossietzky und Ernesto Cardenal nennt er mir. "Cardenal habe ich mal auf dem Kirchentag kennengelernt. Von ihm habe ich sogar einen Brief zur Taufe meines Sohnes", erzählt er.

 

In Metallregalen sind Ordner, Bücher und Ablagen verstaut. Vor dem alten 80-er Jahre-Schreibtisch liegt die alte Decke für Pit. Im Arbeitszimmer erzählt Charly mir von der Zeit in Afrika von 1985 bis 1988. Er hat dort Schulen mit aufgebaut, unterrichtet und als Fußballtrainer gearbeitet. Mehrere seiner Schützlinge sind später von Afrika ausgewandert. Sie sind zum Islam konvertiert und haben dann in Saudi Arabien in der ersten Liga gespielt. Man merkt schon, dass er ein bisschen stolz darauf ist. Besonders beeindruckt mich, dass er noch heute zu vielen Leuten Kontakt gehalten hat und mir anhand von Fotos erzählt, was die Leute gerade machen und wie sie sich entwickelt haben.  


Danke Charly!

Ich hatte einen besonderen Tag bei Euch. Die Kamera war Nebensache und das war gut so. Ich komme immer wieder gerne vorbei um mit dir zu erzählen oder Musik zu hören.

Du passt in mein Projekt "Freigeister" wie die Faust auf´s Auge. Dafür bin ich dankbar. 

Bleib wie Du bist! 

 

Projekt "Freigeister" - Oliver Müller

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